Absolventen aus Gera: "Dieses hier entfachte Feuer geben sie in die Welt"
Im Interview spricht Lehrerin Sybille Tancke über das 35-jährige Bestehen der für Thüringen einmaligen Musikspezialklassen und die aktuelle Sorge

Am Geraer Gymnasium Rutheneum seit 1608 wird in wenigen Wochen das 35-jährige Bestehen der Musikspezialklassen begangen. Rückblick und Ausblick hält Sybille Tancke (56) im Interview. Die Weimarerin leitet heute die Spezialklassen für Musik.
Noch bis zum 14. Februar 2025 können sich Schüler ab Klasse 9 für die Musikspezialklassen ab neuem Schuljahr bewerben. Ist die Nachfrage ungebrochen?
Leider nicht. Wir werden die Anmeldefrist um vier Wochen verlängern. Ich denke, dass wir derzeit doch anders und intensiver werben müssen.
Können Sie sich Gründe für die Zurückhaltung erklären?
Die Zeiten haben sich extrem geändert. Nach meinem Empfinden ist in der Pandemie etwas passiert, das existenziell war für die Kinder und für den Platz der Kultur in der Gesellschaft. Ich habe manchmal das Gefühl, die Menschen haben sich erschreckend daran gewöhnt, dass Kulturveranstaltungen gestrichen wurden. Andererseits sind die Angebote für Jugendliche mehr geworden. Es gibt so viele Möglichkeiten, dass sie sich nicht festlegen wollen. Das Interesse für die Musik ist nicht mehr selbstverständlich. Ich erlebe, dass vielen Schülern Musik wie fremd ist. Für manche ist es schrecklich, einfach zu singen. Sie sind so unheimlich befangen.
Welche Idee steckte vor 35 Jahren dahinter, die Musikspezialklassen zu gründen?
Es war die Herzensangelegenheit von Rainer Müller. Er hat sie mit Beginn des Schuljahres 1989/90 in die Tat umgesetzt. Für die Lehre hat er sich auch Künstler gesucht. Das war damals viel leichter. Er ist durch Thüringen gefahren und hat für die Klassen geworben.
Gibt es sie auch in anderen Bundesländern?
Ja, am Konservatorium in Zwickau und auch in Leipzig-Markkleeberg ist mir dieser Schulzweig bekannt. Daneben gibt es Spezialgymnasien in Pforta und das Belvedere in Weimar.
Worin besteht das Thüringer Alleinstellungsmerkmal der Geraer Spezialklassen?
Im Vergleich zu Belvedere hat sich Gera mehr auf die vokale Ausbildung spezialisiert. Der Konzertchor ist fast gleichzeitig mit der Gründung der Spezialklassen entstanden, damals unter der Leitung von Klaus Schreer. 1994 holte Rainer Müller Christian Frank an die Schule, der den Chor bis heute mit Begeisterung leitet.
Arbeiten heute noch viele Absolventen im Musikgeschäft?
Ja, vor allem als Sänger. In Berlin, Leipzig und Dresden studieren derzeit Geraer Absolventen Gesang. Und es gibt viele, die in Leipzig und Weimar Schulmusik studieren und Lehrer werden wollen. Gerade haben wir einen Referendar, der nach seinem Studium zurück in heimatliche Gefilde gekommen ist. Insgesamt hatten die Musikspezialklassen wohl ungefähr 700 Absolventen seit 1990.
Sind die 35 Jahre Musikspezialklassen ein Grund zum Feiern?
Natürlich. Wir blicken auf 35 erfolgreiche Jahre. Beim Erstellen der Chronik war uns richtig feierlich zumute. Die Festschrift vereint beispielsweise alle Lehrer aus dieser Zeit und sämtliche Auftritte des Konzertchores. Uns wurde dabei bewusst, wie viel der Chor geleistet hat. Die Stimmung war damals noch anders.
Warum entschieden Sie sich für Bachs h-Moll-Messe für das Festkonzert am 9. März in der Kirche St. Johannis?
Chorleiter Christian Frank hat nach einem großen Werk geschaut, das der Chor noch nicht aufgeführt hat. Inzwischen gibt es über 50 Anmeldungen aus den Reihen der Alumni, sodass über 100 Stimmen zusammenkommen. Erklingen soll die „Missa in h“, ergänzt durch Sanctus und Osanna.
Der Kartenvorverkauf startet am 12. Februar. Dabei bewerben Sie auch die Unterstützerkarte. Was steckt hinter der Idee?
35 Euro für 35 Jahre. Doch weil wir viele Leute erreichen möchten, ist das nicht der reguläre Kartenpreis. Wer den Betrag bezahlt, bekommt einen Ansteckbutton mit der Aufschrift „Chorfreund“. Wir arbeiten mit einem Profiorchester und mit Solisten zusammen und müssen und wollen sie entsprechend honorieren. Für mich steckt darin auch der Ansatz für eine Kulturschule.
Wer entwickelte die Unterstützer-Idee?
Sie entstammt unserem „Künstlerischen Betriebsbüro“. So nennt sich die kleine Gruppe, in der die ehemaligen Schüler Finnja Weidlich und Tillman Becker, Christian Frank und ich mitarbeiten. Hier entstanden Plakate, Flyer, Texte für die Chronik und wurde alles organisiert. Bis hin zur Wiedersehen-Party am Probenwochenende.
Seit wann leiten Sie die Spezialklassen für Musik und was liegt Ihnen dabei am Herzen?
Seit einem Jahr bin ich hier als Lehrerin angestellt und darf die Spezialklassen leiten. Ich bin Quereinsteigerin ins Lehramt und habe vorher 30 Jahre als freiberufliche Sängerin in Weimar und Erfurt gearbeitet. Ich wollte so gern hier ein Referendariat machen. Da ich vom Künstlerischen komme, möchte ich das künstlerische Flair an dieser Schule fördern. Es geht nicht nur ums Durchkommen. Mit der künstlerischen Ausbildung wachsen Persönlichkeiten. Das Sprühende, dieses hier entfachte Feuer geben sie in die Welt, ganz gleich in welchem Beruf sie arbeiten. Es potenziert sich. Das ist, was mir am Herzen liegt.